An die Exzellenzen, den Klerus, die Mönche, die Monialen und die Gläubigen des Erzbistums der orthodoxen Kirchen russischer Tradition in Westeuropa.
“CHRISTUS IST GEBOREN! LASST UNS IHN VEREHREN!”
Wir treten in die Weihnachtszeit ein; die adventliche Fastenzeit hat am 15. November begonnen. Jetzt dürfen wir uns ausrichten auf die Feier eines Ereignisses, das den Lauf der Welt verändert hat: die Geburt Gottes dem Fleische nach. Eine solche Behauptung kann sich nur auf den Glauben stützen, nicht aber auf die Rationalität. Wer eine solche Behauptung aufstellt, hat eine Wahl getroffen und tritt dafür mit seinem ganzen Leben ein. Tatsächlich muss ein jeder von uns aufrichtig bekennen, für welchen Gott er sich entscheidet. Aber Christus wird weder in Rom noch in Athen geboren. Er wählte für sich weder Macht noch Reichtum noch Intellekt. Ja, er hat sich noch nicht einmal Jerusalem erwählt, „die Stadt“. Der Ort, der den ersten Atemzug des menschgewordenen Gottes hören durfte, das war die Höhle von Bethlehem. So macht uns die Wahl Christi auch zu Bürgern Bethlehems: Wir sollen uns die Demut und die Armut der Grotte zu Eigen machen. Gott hat dieses verachtete und unbekannte Dorf zum herausragenden Ort seiner Offenbarung gemacht. Er hat sich auserwählt, was nichts war, was arm war; er wählte sich das aus, was zutiefst menschlich war, um dadurch den Menschen zu sagen, dass Er selbst, der Schöpfergott, wie der Mensch sein wollte, um mit ihm zu leben, die Ängste, die Armut, die Tragik des Menschen mit ihm zu teilen, dieses kleinen Menschen, der wir sind. Weihnachten – das ist diese Höhle, dieses Stroh, das sind die armseligen Tiere und zwei arme Menschen, die jedoch voller Vertrauen sind und die dieses Kind betrachten, das man den Erlöser nennt.
Denn die Geburt Jesu in Bethlehem als historisches Ereignis ist unmöglich nur irgendwo in den Tiefen der Weltgeschichte festzusetzen und wird mich, einen Menschen des dritten Jahrtausends, demnach nicht betreffen. Die Botschaft des Weihnachtsfestes richtet sich nicht an die Menschheit im Allgemeinen (die als solche eher bedeutungslos ist). Sie richtet sich an jeden einzelnen Menschen als Person. Diese seine Botschaft berührt jede Seele auf einzigartige und außerordentliche Weise. Ich bin es, dem man zuruft: „Ich verkünde Euch eine große Freude. … Heute ist Euch ein Retter geboren worden.” (Lk 2,10-12) Jedem von uns Menschen wird diese Freude verkündet: Für mich ist ein Erlöser geboren worden. Weihnachten ist ein Geschenk für jeden Menschen, das jeder von uns auch in rechter Weise annehmen können muss und das wir mit Glauben und Dankbarkeit empfangen sollten.
Die Geburt Christi in der ärmlichen Bescheidenheit der Höhle und der Krippe verkündet schon vor jedem Wort, dass Gott unter die Ärmsten und die Erbärmlichsten der Erde gezählt werden möchte. Wir werden ihn folglich unter den Benachteiligten dieser Welt finden – und ihre Zahl scheint eher zuzunehmen, obwohl doch die Intelligenz niemals so viel Macht hatte. Wir werden ihn finden unter den Kranken, den Gefangenen, den Sündern, unter allen Menschen, die leiden. Der wirkliche Christ verlangt nur nach dem Einen: Eher arm sein mit Jesus, als reich ohne Jesus. Er zieht es vor, mit Jesus, Maria und Joseph in der Höhle zu wohnen als in einer Herberge, wo für ihn kein Platz ist, wenn er sagt, wer er ist. Deshalb gilt für einen jeden Menschen das Wort Jesu, das er seine Jünger gelehrt hat: Wer Ihm als Herrn seine Liebe schenkt, der muss wissen, dass er keinen Platz in der Welt hat, denn « der Menschensohn hat keinen Ort, wohin er sein Haupt legen könnte » (Lk 9,58).
Die Geburt Christi ist das Fest des mystischen Leibes aller Getauften, denn durch die Fleischwerdung wurden die Menschen zu Gliedern Christi. Der heilige Paulus hat das genau so verstanden, als er an die Gemeinde in Korinth schrieb: “Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied an ihm.” (1 Kor 12,27) Deshalb glauben wir, dass mit der Inkarnation im menschlichen Fleisch – von Jesus Christus und den Menschen – eine unaussprechliche Vereinigung begonnen hat, die jedes Verstehen übersteigt. Denn jenseits des historischen Ereignisses, das in Bethlehem stattfindet und durch das sich der Sohn Gottes sichtbar mit einem menschlichen Leib bekleidet, wird ein anderes Geschehen Wirklichkeit, und das betrifft die ganze Menschheit. Indem Gott Fleisch wird, vermählt und bekleidet er sich in gewisser Weise mit der menschlichen Natur, an der wir Anteil haben, und stellt zwischen sich und uns eine Verbindung her: Ohne zu verneinen, dass sie eine Verbindung von Schöpfer und Geschöpf ist, ist sie doch auch eine des Leibes mit seinen Gliedern. Es ist eine Vereinigung der zwei Naturen ohne Vermischung. Weihnachten erlaubt uns daher, uns viel grundlegender bewusst zu werden, was unsere eigene Natur ist, die menschliche Natur, neu geschaffen durch Jesus Christus, wie es der hl. Leo der Große hervorhebt: “Christ, erkenne deine Würde! Du bist der göttlichen Natur teilhaftig geworden, kehre nicht zu der alten Erbärmlichkeit zurück und lebe nicht unter deiner Würde. Denk an das Haupt und den Leib, dem du als Glied angehörst!” (Aus einer Homilie zum Weihnachtsfest)
Wie also der Logos Gottes in uns Fleisch werden soll, die wir als Wohnstatt erschaffen wurden, um ihn aufzunehmen, so möge er in unseren Leib eintreten und ihn verwandeln. Von außen her soll die Kraft dieses Wortes unser Inneres, unsere Gliedmaßen, durchdringen; und das Gesetz des Geistes soll stärker werden als das Gesetz des Fleisches. Die Geburt Christi wird für uns einzig dann einen wirklichen Sinn haben, wenn unser eigenes Fleisch zu einem verwandelten Fleisch wird, das sich bewegen und leiten lässt durch das Fleisch gewordene Wort.
Paris, 25. Dezember 2023 / 7. Januar 2024
† Metropolit JOHANNES von Dubna,
Erzbischof der orthodoxen Gemeinden russischer Tradition
in Westeuropa
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